Spinnen gehören zur Lieblingsspeise des hübschen Vogels, und ein idealer Raum um diese Tiere zu beobachten sind Streuobstwiesen. Ob die beiden auch in der Göttiener Streuobstwiese, etwa auf halbem Weg zwischen Küsten und Göttien, zum tierischen Alltag gehören, ist noch nicht zu sagen. Möglich wäre es immerhin, denn Streuobstwiesen sind für beide ein ideales Habitat. Aber noch fehlt eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme und Kartierung von Flora und Fauna für den ebenso nützlichen wie romantischen Naturschutzgarten.
Es ist ein schöner Garten. Eine Oase, in der auf Effekt getrimmten Landwirtschaft ringsum. Eine Streuobstwiese, wie sie im Buche steht. Also wie es die strengen Regeln für Streuobstwiesen verlangen. Auf ihr sollten vor allem starkwüchsige, hochstämmige und großkronige Obstbäume in weiträumigen Abständen stehen. Es sollen Obstbäume verschiedener Arten und Sorten, Alters- wie Größenklassen sein. Und die Streuobstwiese sollte eine Mindestflächengröße von 0,15 ha umfassen. Die Göttiener Wiese zählt immerhin 1,5 Hektar. Im Unterschied zu modernen Dichtpflanzungen mit geschlossenen einheitlichen Pflanzungen soll in Streuobstbeständen stets der Einzelbaum erkennbar sein, Natürlich sind auch Pestizide in Streuobstwiesen ein Tabu. 1996 wurde erstmals das Kriterium des Verzichts auf Pestizide in die Definition von Streuobst aufgenommen.
Der Begriff Streuobstwiese – die regional unterschiedlich auch Bitz, Bongert oder Bungert genannt wird – ist jung. Er stammt aus dem Jahr 1975. Geprägt hat ihn der Biologe und Ornithologe Bruno Ullrich, der in einer Publikation auf die besondere Bedeutung der Streuobstwiese für den Vogelschutz hinwies. Aber Ullrich hatte damals nicht nur den Vogelschutz, sondern zugleich auch die Sorge um Äpfel im Kopf und schrieb: „Von den über 3000 Apfelsorten Mitteleuropas sind nur etwa 60 im deutschen Handel. Auf Streuobstwiesen finden sich jedoch noch viele alte Regionalsorten. Sie stellen daher ein wichtiges Reservoir für den Genpool der Kulturäpfel dar.“
An beides dachte auch der NABU, als ihm die etwas verwilderte Fläche 1996 zum Kauf angeboten wurde. Ein Stück pur Natur, eine wilde Wiese, die mit einigen 6o bis 8ojährigen Apfelbäumen lockte. Begrenzt von einem landwirtschaftlichem Wirtschaftsweg, einem wild wuchernden Gehölzstreifen, einem kleinen Bach mit Teich und einem festen Zaun, der die Wiese von benachbarten Ackerflächen trennte. Also gab es kein Zögern, die Wiese wurde gekauft und damit hatte der NABU im Wendland den Naturschutz wieder um ein weiteres Stück schützenswerte Natur erweitert.
Doch bald mischten sich Sorgen unter die Freude über den gelungenen Wiesenkauf. Wer sollte sich um die Bearbeitung und Pflege der doch ziemlich großen Wiese kümmern? Streuobstwiesen erfordern nämlich einen deutlich höheren Arbeitseinsatz bei der Pflege und Ernte. Aber es ging ja nicht nur um die Ernte. Der Gehölzrand, und auch der kleine Wasserlauf mit Teich mussten regelmäßig gepflegt werden. Außerdem stellte es sich heraus, dass die schöne große Wiese mit herkömmlichen Maschinen nicht zu bearbeiten war – Maulwürfe hatten sie über die Jahre in eine Buckelpiste verwandelt, an der auch kraftvolle Mähmaschinen scheiterten. Und auch weniger aufwendige Arbeiten mussten geleistet werden. Totholz und Baumschnitt zu sammeln gehörte ebenso dazu wie eine regelmäßige Kontrolle. Auch eventuelle Reparaturen der Grenzzäune mussten zuverlässig erledigt werden, um keinen Ärger mit den Grundstücksnachbarn zu bekommen. Zwar ist der NABU im Wendland eine Mitglieder starke Organisation, aber Lust, Apfelbauer zu werden, hatten angesichts des Arbeitsaufwandes nur Wenige. Im Endeffekt zu Wenige. Also entschlossen sich die Verantwortlichen im NABU-Vorstand schweren Herzens, Pächter für den Obstgarten zu suchen.
Im Jahr 2009 hatte ihre Suche Erfolg. Es meldete sich nicht nur ein Pächter, sondern gleich sieben Familien aus Göttien, Diahren und Platenlase, die nicht nur Lust auf Äpfel hatten, sondern auch bereit waren, die erforderliche Arbeiten zu leisten. So entstand jene Apfelkommune, die seitdem die Äpfel erntet, die Streuobstwiese pflegt, immer wieder neue Bäume pflanzt, die Grenzzäune instand hält und zugleich mit unzähligen Nistkästen sehr viel für der Vogelschutz tut. Allein über 20 Nistkästen sollen im kommenden Jahr installiert werden – ein wesentlicher Beitrag für das Artenschutzprogramm des NABU. Dessen Experten schätzen, dass die Obststreuwiesen in Deutschland heute rund 5.000 Tier- und Pflanzenarten einen gesicherten Lebensraum bieten und so bedrohten Arten das Überleben ermöglichen.
Auch für die Kleinsten auf der Streuobstwiese sorgt der NABU mit einem selbstgebauten, wetterfesten Insektenhotel, das natürlich in erster Linie nicht als Speisekammer für die Vögel, sondern als Schutzraum für die von der radikalen Großlandwirtschaft immer weiter zurückgedrängten Insekten gedacht ist. In einer Information über diese erfolgreiche Naturschutzmaßnahme heißt es: „Als praktisch von jedermann mit geringem Aufwand umsetzbare Insektenschutzmaßnahmen wurden die Einrichtungen insbesondere von zahlreichen europäischen Naturschutzverbänden bekannt gemacht. Erste Wildbienenkästen wurden von Privatleuten in England bereits um 1840 gebaut. Diese dienten damals vorwiegend Beobachtungszwecken, können aber als Vorläufer der heute für mehrere Insektengruppen geeigneten Insektenhotels gelten.
Dass Pflege, Erhalt und Erweiterung eines so vielseitigen Schutz- und Nutzraums nicht mal eben nebenbei von einem engagierten Naturfreund geleistet werden kann, ist leicht zu verstehen. Eine Streuobstwiese – vor allem eine von dieser Größenordnung – erfordert kenntnisreiche und verantwortungsvolle Handarbeit und braucht viele helfende Hände: Die Apfelkommune, die die Göttiener Wiese bearbeitet und pflegt, besteht aus 13 engagierten Streuobstwiesen-Freaks. Also aus Menschen, „die eine bestimmte Sache exzessiv beziehungsweise über ein normales Maß hinaus“ betreiben.
Die Gruppe ist basisdemokratisch organisiert, man verständigt sich durch Zuruf, wenn Hilfe für bestimmte Maßnahmen gebraucht wird. Seit 2009 funktioniert das beispielhaft. Und hin und wieder stoßen auch Helfer dazu, die nicht zum Familienkreis der Apfelfreunde gehören. Um beispielsweise mit dem hemmungslosen Wiesenwuchs pflegerisch fertig zu werden und ihn kurz zu halten, haben Mitglieder zweier Familien sich als Schafhalter betätigt und eine kleine Herde unter die Apfelbäume getrieben. Eine erfolgreiche Pflegemaßnahme, die im kommenden Jahr wiederholt werden soll.
Dass die viele Arbeit auf der Streuobstwiese nicht nur Sinn, sondern auch viel Spaß macht, war in Göttien in der zweiten Novemberhälfte dieses Jahres gut zu beobachten.Zehn junge Bäume der alten Apfelsorten Gravensteiner, Danziger Kantapfel, Kaiser-Wilhelm-Apfel sowie eine Sommerlinde konnten über das NABU-Projekt "Streuobstwiesen für Gartenrotschwanz, Hornisse & Co" aus Fördermitteln der Niedersächsischen Bingo-Umweltstiftung beschafft werden. Dann traf man sich zur Pflanzaktion.
Es ist eine sehr gute und überlegte Auswahl: Der Gravensteiner ist eine besonders geschmackvolle Sorte des Kulturapfels, Pomologen schwärmen von seinen saftigen Früchten und seinem duftenden Aroma. Gravensteiner sind seit 1669 in Dänemark und Norddeutschland bekannt. Er ist ein viel gefragter aber rarer Speiseapfel, den man leider nicht immer und überall findet. Der Danziger Kantapfel ist ein Herbstapfel und seit langer Zeit unter den verschiedensten Namen in Holland und Deutschland verbreitet – Rabiner, Passamaner, Nikolausapfel, Roode Kant, Calvillartiger Winterrosenapfel, Bentlebener Rosenapfel, Lorenzapfel. Die Apfelsorte Kaiser Wilhelm wurde 1864 als bereits veredelter Baum aufgefunden. Der Pomologe Carl Hesselmann (1830–1902) leistete mit der Benennung – nicht ganz uneigennützig – einen Beitrag zum Kult um Kaiser Wilhelm I. Der Apfel wurde 1875 Kaiser Wilhelm zur Geschmacksprobe vorgelegt, der daraufhin die Namensverwendung für „diesen wahrhaft majestätischen Apfel“ huldvoll genehmigte und sich mit einer gerahmten Fotografie plus eigenhändiger Unterschrift bedankte.
Die Neuen müssen liebevoll gepflegt und gehegt, gedüngt, gewässert und beschnitten werden, um eines Tages wie die 150 alten und älteren Apfelbäume (davon 25 selbst gezüchtete Sorten) den Erwartungen der Amateur-Apfelwirte aus Göttien, Diahren und Platenlase zu entsprechen. Und die wollen nicht nur Apfelkuchen, Apfelmus oder Apfelgelee, sondern vor allem Apfelsaft. 1.200 Liter haben sie im vergangenen Jahr aus ihrer Ernte gepresst. Dennoch blieben genug Äpfel übrig, um die Wiese zur Erntezeit einmal für Jedermann, vor allem für den Kindergarten und die Schule in Küsten, zu öffnen. Wenn die engagierten Obstbaumpfleger so weitermachen, könne es sein, dass ihre Wiese vom NABU eines Tages zur Obstbaumwiese des Jahres gekürt wird. Es ist ihnen zu wünschen.